5/1/2023·
6 min Lesezeit
Mahtab Khedri

Mahtab Khedri

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Cum-Ex: Steuerhinterziehung, Steuerausgleichserschleichung und Grundrechte

Denkt man an die Grundrechte, erscheinen sie zunächst als ideelle Freiheiten. Im alltäglichen Leben kann man sie jedoch nur ausüben, wenn man Geld dazu zur Verfügung hat. Deshalb ist der Sozialstaat Voraussetzung für die Ausübung der grundrechtlich garantierten Freiheiten.

Der dem deutschen Staat durch CumEx-Steuerbetrug entstandene Steuerschaden wird inzwischen auf über 36 Milliarden Euro geschätzt. Der weltweit entstandene Schaden beläuft sich auf 150 Milliarden Euro. Das Geld fehlt im Bundeshaushalt und kann deshalb für öffentliche Aufgaben, zum Beispiel die in einem Sozialstaat zwingend erforderlichen sozialen Ausgaben, nicht verwendet werden. Profitiert haben davon große Banken, die am internationalen Finanzmarkt Aktien CumEx handeln konnten. Es gibt Erklärungsansätze, weshalb die Taten nicht vorher aufgedeckt und der Schaden minimiert werden konnte. Mehrheitlich wird behauptet, dass die Betrugsmasche so kompliziert gewesen sei, dass nur wenige Expert*innen sie verstehen könnten. Dass der CumEx-Aktienhandel zum Expert*innenwissen gehört, sei von den Akteur*innen ausgenutzt worden. Die Einstufung des CumEx-Steuerbetrugs zum Expert*innenwissen sollte den entstandenen Schaden von über 36 Milliarden Euro rechtfertigen.

Simple Steuerhinterziehung

Allerdings unterscheidet sich die durch Banken begangene Steuerhinterziehung im Grunde nicht von der von normalen Bürger*innen begangene, insbesondere sogenannten Umsatzsteuerkarusselle. Sie beruht auf falschen Angaben gegenüber dem Finanzamt. Bei einem Umsatzsteuerkarussell wird wertlose Ware gehandelt und einfach so getan, als sei dafür Umsatzsteuer bezahlt worden. Die Banken sind beim Betrug mit Kapitalertragsteuer nicht wirklich anders vorgegangen. Bei einem Umsatzsteuerkarussell wird die Erstattung von Umsatzsteuer beim Finanzamt beantragt, die nie gezahlt worden ist. Bei CumEx-Geschäften wird Kapitalertragsteuer beim Finanzamt angegeben, die nie gezahlt wurde. Statt wertloser Waren werden Aktien gehandelt, die es so nur in den Handelsbüchern der Banken gibt.

Betrug ist Betrug

Bei CumEx Geschäften verkaufen sich Banken gegenseitig Aktien ohne Dividendenanspruch, aber behaupten, dass es Aktien mit Dividendenanspruch gewesen wären. Daher auch der Name CumEx, die lateinischen Wörter für “mit” und “ohne” werden in der Finanzwelt für Aktien mit und ohne Dividendenanspruch verwendet. Die Banken behaupten, dass sie Aktien mit (cum) Dividendenanspruch und der entsprechenden Steuer gekauft haben, sie lassen sich aber nur Aktien ohne (ex) Dividendenanspruch liefern. Das entspricht dem Handel von wertlosen Waren beim Umsatzsteuerkarussell. Der Unterschied zum Umsatzsteuerkarussell ist, dass die Banken über Jahrzehnte nicht damit aufgeflogen sind und die meisten Banker ungestraft davon gekommen sind. Da bei CumEx nur Banken mitgemacht haben, die noch seltener einer Steuerprüfung unterzogen werden als normale Unternehmen, wollte teilweise jahrzehntelang kein Finanzamt Unterlagen einsehen. Nachdem der BGH mit Urteil vom 28.07.2021 (1 StR 519/20) entschieden hat, dass CumEx Geschäfte rechtlich als Steuerhinterziehung zu werten sind, ist nunmehr höchstrichterlich die Strafbarkeit bestätigt worden. Es ist bemerkenswert, dass die Strafbarkeit von CumEx Geschäften und dessen Einordnung als Steuerhinterziehung überhaupt umstritten und einer höchstrichterlichen Entscheidung bedurfte. Denn im Gegensatz zur klassischen Steuerhinterziehung im Sinne von Einkommensteuerhinterziehung, bei der Steuern nicht abgeführt werden, wurden bei den CumEx Geschäften vom Finanzamt sogar Gelder ausgezahlt, die vorher nie als Steuern einbehalten wurden, was eindeutig unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung fällt.

Kollusives Zusammenwirken leichtgemacht

In juristischen Kreisen, die dem Finanzmarkt nahestehen, wurde immer wieder argumentiert, dass Banken cum und ex Aktien nicht unterscheiden könnten und ihnen deshalb bei der Steuererstattung kein Nachteil entstehen dürfe. Mit diesem Argument wurde auch lange behauptet, dass das Verhalten nicht strafbar sei. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Banken genau wussten, ob sie eine cum oder ex Aktie gekauft haben und absichtlich ex Aktien als cum Aktien bei den Finanzämtern angegeben haben (vgl. nur Landgericht Bonn, Urteil vom 18.03.2020, 62 KLs - 213 Js 41/19 - 1/19; Beschreibung des Zusammenwirkens der Akteure etwa in Randnummer 76 ff.) Dieses kollusive Zusammenwirken der beteiligten Banken musste gegen den Widerstand und Unwillen von banknahen Wirtschaftsjurist*innen und Teilen der herrschenden Politik nachgewiesen werden. Dafür bedurfte es zunächst mehrerer umfangreicher und aufwändiger staatlicher Ermittlungen und journalistischer Recherchen. Anschließend wurden im ersten Strafverfahren vor dem Landgericht Bonn (aaO.) zwei britische Aktienhändler – trotz des im Urteil festgestellten Schadens von 176.574.603 Euro – zu Bewährungsstrafen verurteilt. Dieses Urteil soll gar nicht kritisiert werden, möglicherweise haben die Verurteilten durch ihre Geständnisse so viel zur Aufklärung der Taten beigetragen, dass eine Bewährungsstrafe gerechtfertigt ist. Allerdings ist wohl die Steuerhinterziehung das einzige Delikt, bei dem im Falle eines Schadens in Millionenhöhe bei vorsätzlicher und täterschaftlicher Begehungsweise noch Bewährungsstrafen ausgeurteilt werden. 

Die Finanzverwaltung hat scheinbar nicht genügend Beamte, um die Angaben in den Steuererklärungen der Banken zu überprüfen. Die Steuererklärungen haben auf gegenseitigem Vertrauen beruht, das rigoros ausgenutzt wurde. Bis heute hat die Finanzverwaltung nicht die Kompetenz, um bei größeren Unternehmen erfolgreich ermitteln zu können.


Fazit

Fraglich ist, ob sich aus dieser realen Unmöglichkeit eine juristische Folge ableiten lässt. Der Großteil des Bundeshaushalts speist sich aus der Einkommensteuer der arbeitenden Bevölkerung. Insbesondere zwischen migrantisierte Personen sowie BPoC und weißen Personen bzw. “Einheimischen” besteht eine große Einkommens- und kaum zu beziffernde Vermögenslücke zu Lasten der Erstgenannten Gruppen. Daraus folgt, dass sie einen höheren Anteil ihres Einkommens für die grundlegenden Lebenshaltungskosten aufwenden müssen. Das Einkommen erwirtschaften diese Personengruppen zumeist aus nichtselbständiger Arbeit. Migrantisierte Personen und BPoC sind folglich stärker von Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit abhängig (s. nur hier und hier).

Die Dividendenbesteuerung, die bei CumEx umgangen wird, ist Teil der Idee, auch (institutionelle) Aktionäre an der Steuerlast zu beteiligen. Insgesamt stellt aber weder die Kapitalertragsteuer noch die Körperschaftsteuer einen größeren Anteil am Steueraufkommen dar. Bisher gab es von keiner Regierung den Willen, an dem Verhältnis zwischen Einkommensteuer und Kapitalertragsteuer etwas grundsätzliches zu ändern. Dass aber durch Steuertricks wie dem beschriebenen CumEx so gut wie keine Kapitalertragsteuer gezahlt wird, entspricht auch nicht dem Willen des Gesetzgebers.

Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass ein Steuergesetz gegen die Verfassung verstößt, wenn es von der Finanzverwaltung nicht umgesetzt werden kann (Urteil vom 09.03.2004, 2 BvL 17/02). Das BVerfG hat das Gesetz, das die Steuererhebung in diesem Fall angeordnet hat, für verfassungswidrig erklärt und damit gekippt. Die Kontrollmöglichkeiten des Staates sind bezüglich der Steuerlast von Arbeitnehmer*innen vor dem Hintergrund der direkten Lohnsteuerabführung maximal. Arbeitgeber hingegen profitieren von etlichen Kontrolllücken. Der Staat schafft es erwiesenermaßen nicht, die rechtmäßige Abführung von Umsatzsteuer und Kapitalertragssteuer von Unternehmen gleichermaßen sicherzustellen. Damit wird Gleiches (die Steuerlast der Arbeitnehmer und die Steuerlast der Unternehmen) faktisch ungleich behandelt. 

Perspektive

Nach einem liberalen Rechtsverständnis ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat zu stärken. In der liberalen Lesart sind Steuern nur Eingriffe des Staates. Im Ergebnis konnte das Bundesverfassungsgericht bisher nur dafür sorgen, dass weniger Steuern einbehalten werden und nicht, dass Steuern konsequenter erhoben werden.

Steuerhinterziehung schadet dem Gemeinwesen, aber aufgrund der fehlenden Beschwerdebefugnis kann niemand die gesetzmäßige Besteuerung von Banken einklagen. 

Die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse erfordern dabei ein Umdenken. Im o.g. Strafurteil wurde nachgewiesen, dass zwei Aktienhändler fast im Alleingang 170.000.000 € hinterzogen haben. Geld, das für Bildung und andere öffentliche Aufgaben gebraucht wird. Dass einzelne Akteure in der heutigen zentralisierten, digitalisierten und spezialisierten Zeit so viel Geld bewegen können, erfordert auch ein Umdenken bei der Rolle der Grundrechte in der Gemeinschaft.

Wie kann ein Rechtsverständnis aussehen, das aus den Grundrechten der Verfassung nicht hauptsächlich Abwehrrechte, sondern verstärkt Rechte auf soziale Teilhabe ableitet? Ein solches Rechtsverständnis würde nicht mit dem Verlust von Freiheit einhergehen, sondern vielmehr die Grundlage für Freiheit schaffen.

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