Lilian Scarlet Löwenbrück

Lilian Scarlet Löwenbrück

Anna Hankings-Evans

Anna Hankings-Evans

6/14/2023·
7 min Lesezeit

Reform zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem: Ein historischer Rückschritt

Die europäischen Innenminister:innen haben sich am vergangenen Donnerstag beim Rat für Justiz und Inneres in Luxemburg für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ausgesprochen und sich auf einen konkreten Reformentwurf geeinigt. Zentral in diesem Entwurf ist die Entscheidung über eine Ausweitung der sogenannten Grenzverfahren, sowie eine wesentliche Erweiterung der Definition des „Sicheren Drittstaates“. Nancy Faeser, die die Verhandlungen in Luxemburg für Deutschland führte, bezeichnete die Einigung auf Twitter als “historischen Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten”. Bei einem genaueren Blick auf die Regelungen bleibt jedoch mehr als fraglich, wie die geplanten massiven Asylrechtsverschärfungen mit Begriffen wie Solidarität und Menschenrechten - oder auch allein den Ankündigungen zu migrationspolitischen Zielen der Ampel-Regierung aus dem Koalitionsvertrag -  noch in Einklang gebracht werden sollen. 

Der New Pact on Migration and Asylum als Grundlage

Bereits seit 2015/2016 haben die EU-Staaten an einer weitreichenden Reform des Asylsystems gearbeitet. Nachdem im Jahr 2016 erste Reformvorschläge keine innereuropäische Einigung erreichen konnten, hat die EU-Kommission im September 2020 mit dem New Pact on Migration and Asylum einen neuen Aufschlag für das GEAS präsentiert. Dieser Vorschlag wurde dann mit wenigen Änderungen Anfang April dieses Jahres vom Europäischen Parlament als dessen Verhandlungsposition angenommen. 

Im Rahmen der Verhandlungen am 8. Juni in Luxemburg stimmte auch Deutschland, vertreten durch Innenministerin Nancy Faeser, für das Vorhaben. Dies kommt nicht überraschend, denn bereits Ende April wurde die Position der Bundesregierung zu den GEAS-Reformplänen öffentlich, die eine grundsätzliche Zustimmung für die wesentlichen Punkte des Entwurfs signalisierte. 

Was bedeutet der sogenannte Asylkompromiss?

Einer der Kernpunkte des nun im Rat der EU beschlossenen Asylkompromisses ist die Auslagerung der Asylverfahren an die Außengrenzen. 

Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen

Grenzverfahren sind dabei nicht gänzlich neu. Sie gab es bereits im Rahmen des sogenannten “Türkei-Deals”. Nun soll deren Anwendung durch die GEAS-Reform jedoch erheblich ausgeweitet werden. Bei diesem an den EU-Außengrenzen durchgeführten Verfahren handelt es sich um kein “echtes” Asylverfahren, denn Fluchtgründe werden im Rahmen dieser Sachprüfung nicht geprüft. Schutzsuchende, die um Asyl bitten, werden künftig an den EU Außengrenzen registriert und lediglich einer Zulässigkeitsprüfung unterzogen. Das Grenzverfahren erlaubt dabei, Schutzsuchende in haftähnlichen Lagern festzuhalten, Kinder und Familien miteingeschlossen. In der Regel soll dann innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob die Antragsteller:innen eine Chance auf Asyl haben. Daran anschließen kann ein neues Abschiebungsgrenzverfahren, was dazu führt, dass Menschen bis zu sechs Monate als „nicht eingereist“ an den Außengrenzen festgehalten werden. Auch ist es denkbar, dass sich hieran noch Abschiebungshaft anschließt, die wiederum bis zu 18 Monate dauern kann.

Die Grenzverfahren sollen nach den GEAS-Plänen grundsätzlich für Antragsteller:innen aus Herkunftsstaaten mit einer “niedrigen Anerkennungsquote” (unter 20% europaweit) gelten, aber sind auch für jene aus “Sicheren Herkunftsstaaten” sowie für Personen, die über “Sichere Drittstaaten“ in die EU geflohen sind, angedacht. Entgegen der Annahmen von Innenministerin Faeser können die Grenzverfahren also auch Schutzsuchende aus Afghanistan oder Syrien betreffen, soweit diese über Sichere Drittstaaten, etwa die Türkei, einreisen. Problematisch an der Durchführung von Grenzverfahren ist auch, dass der Zugang zu juristischer Beratung und Vertretung und damit auch zu effektivem Rechtsschutz deutlich erschwert wird.

Das Konzept der Sicheren Drittstaaten

Im Zentrum der Kritik am neuen europäischen Asylverfahren steht daneben das Konzept des „Sicheren Drittstaates“, das eine erhebliche Ausweitung erfahren soll. Reisen Schutzsuchende über einen solchen Sicheren Drittstaat in die EU ein, werden Asylanträge als “unzulässig” zurückgewiesen. Zwar ist weiterhin erforderlich, dass eine Verbindung („connection“) zum Sicheren Drittstaat bestehen muss, gegen die Entscheidung über das Vorliegen eines solchen Verbindungselements kann jedoch - entgegen der alten Rechtslage - kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden. Zudem werden an die Verbindung nur noch geringe Anforderungen gestellt, insbesondere soll ausreichen, wenn Familienangehörige sich in diesem aufhalten, oder die schutzsuchende Person sich - auch nur kurzfristig - dort ansiedelte (“settled”) oder dort lediglich verweilte (“stayed”). Eine zeitliche Schwelle ist nicht vorgesehen. Schließlich soll die Einstufung eines Staates als Sicherer Drittstaat auch mit Ausnahmen für bestimmte Teile des Hoheitsgebietes und eindeutig identifizierbare Personenkategorien erfolgen dürfen. Denkbar wären also bei Verschärfung auch Rückführungen in Transitstaaten sowie in Staaten, in denen teilweise Krieg herrscht. 

Vor der GEAS-Reform war zudem erforderlich, dass Sichere Drittstaaten im Sinne eines effektiven Schutzes (“effective protection”) zumindest die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben und diese auch einhalten. Die neue Regelung sieht dagegen vor, dass nunmehr auch ein geringerer Standard ausreichen soll. Im Ergebnis bedeutet das, dass Staaten wie die Türkei, Tunesien, Algerien, Marokko, und möglicherweise auch Belarus, Teilgebiete Libyens und Syriens diese Voraussetzungen erfüllen könnten. Dies erscheint vor dem Hintergrund von Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Verbot der Ausweisung und Zurückweisung, nicht im Einklang mit völkerrechtlichen Mindestanforderungen.

Erweiterung der Sicheren Herkunftsstaaten

Auch die Liste der “Sicheren Herkunftsstaaten“ soll ausgeweitet werden. Für Antragsteller:innen aus sogenannten Sicheren Herkunftsländern, zu denen nach den Reformplänen künftig auch Georgien und Moldau zählen sollen, gilt die Regelvermutung, dass keine Verfolgungsgefahr vorliegt. Trotzdem werden die Asylanträge in diesen Fällen inhaltlich geprüft - allerdings mit einigen verfahrensrechtlichen Einschränkungen.

Weiterhin hält der GEAS-Entwurf auch an dem vielfach kritisierten Dublin-System fest, nach dem der Ersteinreisestaat für die Asylverfahren der Schutzsuchenden zuständig ist. Die Dublin-Regelungen sollen nun sogar noch verschärft werden, indem beispielsweise längere Überstellungsfristen gelten sollen. 

Auch der Status Quo ist unerträglich

Die Situation für Geflüchtete ist schon jetzt in vielerlei Hinsicht untragbar, wenn man daran denkt, dass Schutzsuchende unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern in Libyen oder auf Lesbos festsitzen, dass illegale Pushbacks sowie Misshandlungen von Schutzsuchenden durch europäische Grenzbeamt:innen gängige - und umfassend dokumentierte - Praxis sind. Erst gestern urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren H.A. et al./Griechenland, dass die Lebensbedingungen in Moria zwischen 2017 und 2018 die Rechte der Kläger nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) verstoßen habe. Vor diesem Hintergrund bleibt zweifelhaft, inwieweit Grenzverfahren menschenwürdig durchgeführt werden können. Vielmehr werden hierdurch Rechtsbrüche legalisiert, indem europäische Entscheidungsträger:innen unmenschlichen Maßnahmen die goldene Brücke zurück in die (europäische) Legalität bauen, anstatt das eigene Regierungshandeln an fundamentalen Menschenrechten auszurichten. 

Das GEAS verdeutlicht die Fragilität des europäischen Menschenrechtsschutzes, und die postkoloniale Kontinuität des „Anderen“. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Völkerrechts verdeutlicht, dass der europäische Expansionismus wesentlich zur Konstruktion eines (rassifizierten) Herrschaftssystems beitrug. Es waren europäische Staaten, die das "Andere" zu einer sozialen Realität machten, indem man sich scheinbar neutraler Enklaven – etwa der Souveränität, Zivilisation und Kultur – bediente, ohne eine substanzielle Gleichstellung anzustreben. In ähnlicher Manier wird heute an der Idee „Festung Europa“ festgehalten, indem scheinbar neutrale Parameter, etwa die des „Sicheren Drittstaates“ und „effektiven Schutzes“ eine stetige Aushöhlung erfahren.

Ein Paradigmenwechsel?

Die beabsichtigte GEAS-Reform ist als drastische Einschränkung des Flüchtlingsschutzes zu sehen. Dass sich in Deutschland insbesondere Parteien wie die SPD und die Grünen mehrheitlich - wenn auch mit Bauchschmerzen - für diese Regelungen aussprechen, zeigt, wie weit nach rechts der Diskurs gerückt ist und jenseits des (völker)rechtlich zulässigen geführt wird. 

Die Reform ist auch weit weg von einem “Paradigmenwechsel” hin zu einer menschenrechtsbasierten und humaneren Flüchtlingspolitik, den die Ampel-Koalition noch im Koalitionsvertrag angekündigt hat. Nach diesem Maßstab aber hätte eine Zustimmung Deutschlands zur geplanten GEAS-Reform kaum erfolgen können und eine klare ablehnende Haltung hätte vielleicht auch Wirkung in den Verhandlungen gezeigt: Hätte Deutschland den Reformplänen nicht zugestimmt, so wäre der Asylkompromiss vermutlich nicht zustande gekommen - so jedenfalls auch die Einschätzung der Grünen Außenministerin Annalena Baerbock, die in einem Schreiben an ihre Parteikolleg:innen um Zustimmung für die Reform warb.

Wie geht es weiter?

Geplant ist es, die Reformvorschläge bis zum Ende der europäischen Legislaturperiode im Frühjahr 2024 zu verabschieden, damit sie anschließend in nationales Recht umgesetzt werden können. Zudem soll in einem Jahr nach Inkrafttreten der GEAS-Reform die Regelung einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Denkbar ist eine wesentliche Verschärfung. 

Nach der Einigung der EU-Innenminister:innen ist nun das Europäische Parlament gefragt, mit dem sich die EU-Länder auf den endgültigen Gesetzestext verständigen müssen. Im Rahmen eines sogenannten Trilogs sollen der Rat der EU, das EU-Parlament und die EU-Kommission die tatsächlichen Gesetze verhandeln. Die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, Terry Reintke, hat bereits angekündigt, dass ihre Partei den Ratsbeschluss nicht für tragfähig halte. Auch Widerstand aus der Zivilgesellschaft gegen den sogenannten Asylkompromiss wird lauter.

Die neuen Verhandlungen sollen diese Woche beginnen. Eine Chance besteht also noch, die GEAS-Reform zu kippen, oder - wohl realistischer - zumindest noch einzelne Änderungen durchzusetzen. 

Allerdings wird die geplante GEAS-Reform auch mit einzelnen möglichen Nachbesserungen, wie z.B. die von Deutschland angestrebte Regelung, Familien mit Kindern aus den geplanten Grenzverfahren auszunehmen, weiterhin eine Asylrechtsreform bleiben, die für eine Vielzahl von Schutzsuchenden die Entziehung des Rechts auf Asyl vorsieht und auf Abschottung setzt. Von einer Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechtslage ist sie jedenfalls weit entfernt.

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